„KI im Publishing ist kein Selbstzweck – sie muss Perspektiven schaffen“
Stephanie von Unruh, Geschäftsführerin Nordwest Mediengruppe, schildert im HUP-Interview ihre Einschätzungen zur aktuellen KI-Nutzung und digitalen Transformation in deutschen Redaktionen – und gewährt einen tiefen Einblick in die Strategie und Praxis ihres eigenen Hauses.
Frau von Unruh, Sie haben bereits 2022 einen strategischen KI-Weg eingeschlagen. Was war der Auslöser?
Wir haben relativ frühzeitig – auf Initiative der Redaktion – damit begonnen, über den konkreten Einsatz von KI-Anwendungen in der Seitenproduktion zu sprechen. Konkret war es eine Veranstaltung unseres CMS-Anbieters Eidos, bei der eine Kooperation mit dem kanadischen Anbieter Sophi.io vorgestellt wurde. Die Redaktion hat die Idee direkt an die Geschäftsführung herangetragen. Wir haben dann einen ersten Business Case gerechnet und uns für ein Invest in Höhe von maximal 250.000 Euro entschieden. Das war auch für unser Haus eine große Summe, aber wir waren überzeugt: Diese Investition zahlt auf unsere Transformation und auch auf die nachhaltige Zukunft unseres Printgeschäfts ein.
Wie sind Sie die Einführung angegangen?
Parallel dazu haben wir mit einem Voicebot-Projekt im Kundenservice gestartet, um das überlastete Callcenter bei Zustellreklamationen zu automatisieren. Dazu kam dann unser „Game Changer“: Eine von uns initiierte ‚Sandbox-Phase‘, bei der verschiedene Teams drei bis vier KI-Anwendungen testen sollten. Wir wollten Neugier fördern, Technologie erlebbar machen und über konkrete Erfahrungen lernen. Das war der entscheidende Impuls, um intern Neugierde, Verständnis und Lust auf KI zu wecken.
Was ist Ihr bisher größter Erfolg?
Wir sind der erste Verlag in Deutschland, der die automatisierte Seitenproduktion mit KI im großen Stil umgesetzt hat – zunächst bei den Tageszeitungen, inzwischen auch bei unseren Wochenblättern. Unser Ziel ist es, bis Ende 2025 etwa 80 % der Seitenproduktion hochautomatisiert abzubilden. Das verschafft uns enorme Effizienzgewinne, aber – und das ist mir wichtig – wir haben deswegen niemanden entlassen. Stattdessen konnten wir Kolleg:innen in neue Rollen entwickeln und beispielsweise ein digitales Sonntagsprodukt launchen, das so vorher gar nicht möglich gewesen wäre.
Wie nehmen Sie die Mitarbeitenden mit?
Wie in jedem Change-Prozess haben wir Fans, Zweifler und Skeptiker. Ich würde sagen, etwa zwei Drittel ziehen aktiv mit. Der Mittelbau schwankt – da helfen Schulungen, Masterclasses und unser Botschafter:innen-Programm. Für den Rest schaffen wir immer wiederkehrende Angebote. Entscheidend ist: Wir setzen auf Begeisterung, nicht auf Zwang.
Wie organisieren Sie die KI-Entwicklung intern?
Wir haben unter anderem ein Advisory Board gegründet, das Use Cases bewertet, rechtliche Fragen klärt und Budgets freigibt. Gleichzeitig haben wir unsere Organisation angepasst: In der Redaktion sind heute nur noch 12 von 150 Redakteurinnen und Redakteure für Print zuständig. Das war ein schmerzhafter, aber notwendiger Schritt für unsere Redaktionen. Nur so schaffen wir Raum für Innovation, neue Produkte und mehr Qualität in den redaktionellen Prozessen.
Welche Rolle spielt dabei das Thema Datenqualität?
Eine zentrale. Gute KI braucht gute Daten. Und Prozesse, die funktionieren. Deshalb setzen wir auf schlanke MVPs, klare KPIs und enge Zusammenarbeit mit IT und Produktentwicklung. Außerdem pflegen wir Kooperationen – etwa mit dem Weser-Kurier im IT-Bereich – und rollen neue Tools schrittweise aus.
Wie beurteilen Sie den aktuellen Wissensstand zum Thema KI in der deutschen Redaktionslandschaft?
Der „Schockmoment“ rund um KI ist in vielen Häusern überwunden. Es herrscht allerdings eine sehr unterschiedliche Geschwindigkeit der Adaption. Große Unternehmen neigen zu formalisierten Prozessen, während mittelständische Häuser durch ihre Flexibilität und „Hands-on-Mentalität“ oft schneller testen und skalieren können. Redaktionen sind beim Thema KI häufig schon weiter als andere Verlagsbereiche, weil KI-Funktionalitäten in den Redaktionssystemen integriert wurden und journalistische Teams die Chancen pragmatisch nutzen.
Wo liegen aus Ihrer Sicht aktuell die größten Herausforderungen?
Die Herausforderung liegt darin, KI nicht nur für Effizienzgewinne zu nutzen, sondern auch für Produktentwicklung, die Erschließung neuer Wertschöpfung und nicht zuletzt für die redaktionelle Qualität, zum Beispiel bei der Themenplanung und der Kuratierung von Kommentarfunktionen. Außerdem müssen wir erkennen, dass nicht jeder Mitarbeitende mit der gleichen Begeisterung an das Thema herangeht – und das ist in Ordnung. Veränderung lebt von denen, die sie tragen.
Wie stehen Sie zur Kennzeichnungspflicht von KI-generierten Inhalten?
Wir vertreten eine klare Linie: Überschriften und Zusammenfassungen, die auf Basis des eigenen Redaktionscontents entstehen, sind unkritisch. Wenn jedoch Inhalte durch externe Quellen oder stark veränderte KI-Kompositionen ergänzt werden, ist Transparenz gegenüber den Lesern unerlässlich. Unsere Glaubwürdigkeit ist unser wichtigstes Gut.
Wie sieht Ihre Vision für die nächsten fünf bis zehn Jahre aus?
Ich erwarte eine weitere Personalisierung journalistischer Angebote, flexible Content-Formate (Text, Audio, Video) und mehr nutzerzentrierte Ausspielungen. Wichtig ist die enge Verzahnung von Redaktion, Datenanalyse und Produktentwicklung. Technologisch brauchen wir Systeme, die Content automatisiert klassifizieren – zum Beispiel ob Inhalte Abo-relevant oder Reichweitenfördernd sind – und eine effiziente Mehrfachverwertung ermöglichen.
Welche Geschäftsmodelle sehen Sie als zukunftsfähig?
Live-Journalismus und Audioformate bieten großes Potenzial, ergänzt um Video. Paid Content allein wird nicht die Lösung sein. Wir setzen auf vielfältige Monetarisierungsmodelle, auch durch Kooperationen mit Startups und regionalen Partnern.
Hat Print noch eine Zukunft?
Ja. Print wird nicht verschwinden, auch wenn Printunabhängigkeit ein strategisches Ziel ist. Vielmehr geht es darum, alle Kanäle so zu orchestrieren, dass sie unterschiedliche Zielgruppen erreichen – inklusive neuer, jüngerer Leserinnen und Leser. Für uns stellt das E-Paper eine zusätzliche Brückentechnologie dar, die uns Zeit und Geld verschafft, um neue digitale Geschäftsmodelle zu etablieren.
Ihr Fazit für andere Verlage, die noch am Anfang stehen?
Fangen Sie klein an – aber fangen Sie an! Starten Sie mit einem Pilotprojekt, schaffen Sie Raum fürs Ausprobieren, holen Sie Ihre Leute emotional ab. Und ganz wichtig: Machen Sie KI zum Thema der Führungsebene. Veränderung beginnt nie im Maschinenraum, sondern immer im Kopf.